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Die Grenzgängerin

Wenn Musiker in der Lage sind, mehr als zwei Akkorde in unterschiedlichen Stilarten zu spielen, werden sie von ihren Plattenfirmen schnell mit dem Etikett „Grenzgänger“ beklebt. Wenn man allerdings wie die Klavier-Vokalistin Youn Sun Nah im Süden des geteilten Landes Korea geboren wurde und zudem im Jahr 1989 vor Ort die Öffnung der Berliner Mauer erlebte, bekommt dieser Begriff eine andere, authentische Bedeutung. 

„Ich habe hautnah gesehen, was eine Wiedervereinigung bedeutet. In Deutschland hat es gut funktioniert, sofern ich es beurteilen kann. In meiner Heimat dagegen haben wir nicht das Gefühl, dass es bald soweit sein könnte.“

 

Kultur und Emotionen sind im ostasiatischen Land stark verknüpft. „Traditionelle Musik ist in Korea sehr populär, aber man kann nicht mitsingen, weil sie so kompliziert ist. Es fehlen Harmonien und Melodien. Das machte es auch für mich sehr schwer in meiner Entwicklung. Manche brauchen ihr ganzes Leben dafür.“ Auf Tourneen Ende der 80er Jahre lernte Youn Sun Nah in Europa andere Musikstile kennen. 1995 fand sie in Paris schließlich ihren neuen Lebensmittelpunkt.

 

Ihre aktuelle CD „Immersion“, die sie neben anderem am 25. Mai in Oldenburg präsentieren wird, folgt auf die Alben „She moves on“ und „Voyage“. Die Titel deuten auf eine umtriebige Künstlerin hin, die noch nicht angekommen scheint. „Interessanter Gedanke. Ich bin in der Tat noch nicht angekommen, was aber auch nicht mein Ziel ist. Es gibt musikalisch noch so viel zu tun“, erwidert die 49-Jährige. Aufgewachsen in Seoul, reiste sie nach einem Literaturstudium nach Paris, um sich dort als Jazz- und Chorsängerin ausbilden zu lassen. „Ich staune selbst, wie sich mein Leben entwickelt hat. Ich empfinde jeden Tag als Geschenk. Ich lebe einen Traum.“

 

Dass Youn Sun Nah zu einer gefragten und mit vielen Preisen ausgestatteten Klavier-Vokalistin im Jazz werden würde, war nicht absehbar. „Wenn ich mich recht erinnere, habe ich als Teenager zum ersten Mal Jazz gehört. Ich weiß aber nicht mehr genau, welches Stück es war; auf jeden Fall Trompete“, sagt sie schmunzelnd. „Louis Armstrong oder Miles Davis!“ Von einem Erweckungserlebnis will sie deshalb nicht sprechen. „Ich bin in einer sehr musikalischen Familie aufgewachsen. Mein Vater war Dirigent, meine Mutter klassische Sängerin. Da schienen andere Wege vorgezeichnet. Aber die sehr gute Grundausbildung war sicher der Schlüssel für meinen weiteren Weg.“

 

Ihr Debüt als Sängerin feierte sie mit 23 Jahren bei einem Konzert mit dem koreanischen Sinfonieorchester. Zudem wirkte sie erfolgreich in Musicals mit, unter anderem in „Linie 1“. „Diese schnelllebige, kommerzielle Szene wurde mir bald zu eng. Deshalb entschloss ich mich 1995 nach Frankreich zu gehen, um am CIM in Paris, einer der ältesten Jazzschulen Europas, Jazz und französisches Chanson zu studieren.“ Zudem besuchte sie das Staatliche Musikinstitut in Beauvais sowie das Boulanger-Konservatorium.

 

Über Auftritte in Pariser Clubs und auf Festivals fand ihr Name Resonanz. 2001 spielte Youn Sun Nah ihr erstes Album ein. 2004 wurde sie in ihrem Heimatland als „Best Artist“ ausgezeichnet. 2005 gewann sie den Grand Prix beim Jazz à Juan Concours. Von US-Trompeter Wynton Marsalis erhielt sie eine Einladung zur „Jazz at Lincoln Center“-Konzertreihe. In Deutschland wurde sie unter anderem mit dem Echo Jazz 2011 als „beste Sängerin international“ prämiert.

 

Ihre großen musikalischen Wünsche kann Youn Sun Nah sich weitgehend selbst erfüllen. So vertrat sie ihr Heimatland auf der Abschlussveranstaltung der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotchi und war Koreas Unesco-Botschafterin für den International Jazz Day. Die politische Großwetterlage dagegen liegt in anderen Händen, doch sie sagt auch: „Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass wir eines Tages vereint sind. Das war der große Traum meiner Großeltern. Ich habe ihnen damals ein Stückchen der Berliner Mauer mitgebracht, damit sie weiter träumen konnten. Leider sind sie inzwischen gestorben.“

 

Der Jazz hat Youn Sun Nah durch die ganze Welt und in die fernsten Winkel geführt. „Nur nach Nordkorea darf ich nicht. Deshalb bleibt es mein Lebenstraum, eines hoffentlich nicht mehr so fernen Tages in Pjöngjang zu singen.“ Und dann hätte für sie das Wort „Grenzgänger“ die wahre Bedeutung bekommen.

 

Text: oli/anbeat 

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