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Leere im Stuhlkreis

Ist es wirklich interessant, den Beatles fast acht Stunden lang dabei zuzusehen, wie sie sich durch halbfertige Lieder proben, Schnittchen essen, Tee trinken, Konflikten aus dem Weg gehen, Witze reißen und sich vom Zufall oder der ersten Eingebung treiben lassen? Auf jeden Fall! Deshalb "Get Back" ansehen.

 

Am Ende ihres irdischen Daseins sind sie doch alle gleich: sogar höhere Wesen, von denen mancher glaubte, sie seien nicht von dieser Welt, also auch The Beatles. Und das Bewusstsein, um das, was am Tag danach kommt, wenn es vorbei ist, was bleiben wird, von den Fab Four. Über 50 Jahre nach der inoffiziellen Trennung im April 1970, nie ausgesprochen, mal kryptisch, mal verdruckst oder verschwiemelt angedeutet, hält diese Debatte nun an. Am Scheitelpunkt des achten Lebensjahrzehnts der beiden Bandsiegelbewahrer auf Erden, Paul McCartney und Ringo Starr, geht es in der mit großer Spannung erwarteten filmischen Dokumentation "Get Back" vor allem um Nachlassverwaltung und Deutungshoheit.

 

Starregisseur Peter Jackson, berühmt geworden durch "Der Herr der Ringe", hat sich der 56 Stunden Film- und 150 Stunden Ton-Rohmaterial der Aufnahmesession im Januar 1969 angenommen. Mit dem im Mai 1970 unter dem Titel "Let It Be" in den Kinos gezeigten, von Filmemacher Michael Lindsay-Hogg hastig zusammengeschusterten 81-Minuten-Streifen, hat die neue Version außer den vier Protagonisten nur wenig gemein. Zu erleben sind nun knapp acht Stunden, nach Art der Ringe portioniert in drei Folgen, beim Streamingdienst Disney+.

 

Der "Herr der Ringe" als Herr über 56 Stunden Stunden Dokumaterial: Regisseur Peter Jackson

Und obwohl das Filmprojekt wegen Rechtestreitigkeiten, Corona-Pandemie und sonstiger Ärgernisse statt in einer Kino-Premiere nur digital übers Internet zu sehen ist, ist eine der bewegendsten Musikdokumentationen aller Zeiten entstanden, ein echtes Epos mit Göttern und Helden, Tätern und Opfern, Liebe und Rache. Dass Jackson mit der Kuratierung des Endlosmaterials beauftragt wurde, hat wohl vor allem mit seiner exzellenten, sehr berührenden Doku "They Shall Not Grow Old" aus dem Jahr 2018 zu tun, eine elektrisierende Reise in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Dabei ging der 60-jährige Neuseeländer chronologisch präzise wie ein Historiker vor; mit dem Blick auf die Wirkmacht der Bilder, restaurierte und kolorierte er 100 Jahre alte Amateuraufnahmen.  Die Musik wurde von Giles Martin, Sohn der Produzenten-Legende und Beatles-Intimus George Martin, und Toningenieur Sam Okell neu abgemischt. Der Film entstand unter Mitwirkung von Paul McCartney, Ringo Starr, Yoko Ono und Olivia Harrison.

 

Der Zickenkrieg der Beatles breitete sich von den Aufnahmen zum "White Album" ab Mitte 1968 und zog sich ebenso durchs folgende Jahr. Natürlich ging es damals nicht wirklich um Leben und Tod, wobei das Aggressionspotenzial der Musiker untereinander bei weiterer Studioarbeit wohl dazu geführt hätte. Aus den „Fab Four“ waren die drei Fraktionen John/Yoko, George und Paul geworden, die sich zur Durchsetzung ihrer musikalischen Ideen täglich neue Koalitionspartner suchen mussten. Zur Beschlussfassung wurde Ringo gebraucht, der am Schlagzeug doch eigentlich nur seine Ruhe haben wollte. 

 

Frischer Wind ins muffige Bandgefüge: Rooftop Concert auf dem Apple Gebäude im Januar 1969

Wie so oft suchte die Öffentlichkeit nach schnellen Antworten - die Lindsay-Hogg-Fassung lieferte sie. Dass George Harrison, dessen Genialität als Komponist und Gitarrist lange Zeit von Lennon/McCartney gedeckelt wurde, kurzzeitig die Band beleidigt verlassen hatte, blieb hier ebenso verborgen wie der wichtige kreative Einfluss von Yoko Ono auf John Lennon und Linda Eastman auf Paul. Aber je nach Grad der Deutungshoheit waren am Ende sowieso die Frauen schuld.

 

Das Original von 1970 zeigt die Arbeitsatmosphäre als düster und bedrohlich, mit Musikern in Endlosdebatten statt in Jamsessions. Zudem diffundierten die Planlosigkeit und Zerrissenheit in den Aufnahmeprozess. "Wir können nicht ewig so weitermachen", stellt Paul am 14. Januar im Stuhlkreis fest. "Was ihr braucht, ist ein ordentliches Arbeitsprogramm. Kein zielloses Umherstreifen in den Schluchten des Geistes. Ein Ziel im Leben. Jeden Tag etwas erreichen."

 

Etwas? Es ging um alles: neues Material, aus dem Songs und ein Album werden sollten; ein Film, der das Entstehen dokumentiert; ein Live-Konzert, nach zweieinhalb Jahren Pause wieder vor Publikum, noch dazu an einem extravaganten Ort der Welt. Die kreativen Ideen waren hochfliegend, die Disziplin dagegen unterirdisch. Paul trieb das Projekt voran - und damit John, George und Ringo auf die Palme. Die Stimmung war bei minus/unendlich, die Kameras nahmen das nervige Geplänkel schonungslos auf. 

 

Paul: "Wir sollten jetzt aufhören zu filmen. Aus Prinzip."

Michael Lindsay-Hogg: "Wir hatten uns vorhin unterhalten."

John: "Über die Distanz zwischen uns?"

Michael: "Über die Lücke zwischen uns. Aber auch die Doku, die stockt. Wie soll es weitergehen?"

John: "Stockt? Sie nimmt eher Fahrt auf."

Paul: "Genau. Jetzt geht's los."

Und John beginnt, die Geschichte des einbeinigen Gepäckstücks und der unkeuschen Pfadfinder in kurzen Hosen zu erzählen.

Darauf Paul: "Wir sollten jetzt aufhören zu filmen. Aus Prinzip."

 

Man sollte sich nichts vormachen: 468 Minuten - also knapp acht Stunden - sind selbst für Hardcore-Fans der Beatles eine harte Nuss. Es gibt Längen, sogar Langeweile, zwischenzeitlich überträgt sich die Müdigkeit der Musiker auf den Zuschauer. Aber dann und wann, und mit zunehmender Dauer immer häufiger, strahlen die Glanzlichter:

 

Wenn wir Paul quasi in Echtzeit zusehen und zuhören dürfen, wie er "Get Back" aus Phrasen und Fragmenten vor den anderen zu diesem zeitlosen Rocker entwickelt, den wir kennen und lieben.

 

Oder wenn George sich mal was traut, und mit den anderen sein wunderbares "All Things Must Pass" öffentlich ausbreitet.

 

Oder Yoko auf ihre eigene Art den üblichen Meckergesang vorträgt, während sie von Paul (!) am Schlagzeug begleitet wird.

 

Oder wenn das Freiluft-Konzert auf dem Dach des Apple-Gebäudes erstmals in voller Länge zu erleben ist; zwar ohne die von Ringo ersehnte Verhaftung wegen mutwilligen Lahmlegens des Londoner Straßenverkehrs, dafür mit heldenhaft gegen den Wind ankämpfenden Musikern, die als "The Beatles" so viel Spaß erleben und verbreiten, dass man sich wünscht, die drei Folgen beim Streamingdienst hätten doch insgeheim eine zweite Staffel in der Planung. 

 

Text: oli/anbeat.com

Fotos: Disney Plus

 

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