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Das kurze Leben des Propheten

Nur einen Augenblick lang war es Eric Dolphy vergönnt, in der Jazzgeschichte seinen Fußabdruck zu hinterlassen. Als der damals 36-Jährige am 29. Juni 1964 während einer Deutschlandtournee in einem Westberliner Krankenhaus an den Folgen einer nicht erkannten Diabetes starb, war dieses Multitalent noch längst nicht am Ziel der Reise angekommen. Was durch ihn möglich gewesen wäre, hatte sich im vorhergehenden Juli angedeutet. Das nun, rund 55 Jahre nach seinem Tod veröffentlichte Dreifachalbum "Musical Prophet: The Expanded 1963 New York Studio Sessions" (Resonance Records) ist deshalb weit mehr als eine bemerkenswerte Fundsache.

 

Die Studioaufnahmen der beiden Tage im Juli 1963 sind quasi die musikalische Weichenstellung für sein Meisterstück "Out to Lunch!"; Dolphys einziges Album, das er für Blue Note Records als Bandleader aufgenommen hat. Das am 25. Februar 1964 in Englewood Cliffs eingespielte Werk gilt heutzutage als eines der besten Alben in der Geschichte des legendären Labels und stellt einen Höhepunkt des Avantgarde Jazz der 1960er Jahre dar. "Mit Eric Dolphy veränderte sich einiges", urteilte Kritiker Ralf Dombrowski viel später.

 

Der 1928 in Los Angeles geborene Alt-Saxophonist sorgte in der Musikwelt gleichermaßen für Erstaunen und Entsetzen. Er hatte die bis dahin nur aus der Klassik bekannte Bassklarinette für den Jazz entdeckt und diesem großen, farbenreichen und schwierig zu spielenden Instrument Töne entlockt, die seltsam abenteuerlich klangen und doch voller Emotionen waren. Manche Kritiker fühlten sich an einen kreischend aufflatternden Vogelschwarm erinnnert; Klangkaskaden, die Mitspieler und Publikum faszinierten und gleichzeitig erschreckten.

 

Das dreiteilige Album "Musical Prophet" ist sehr gut geeignet, sich dem Phänomen Eric Dolphy zu nähern. Zumal im beiliegenden 100seitigen Booklet die Jazz-Größen und Weggefährten wie Sonny Rollins, Dave Liebman und Richard Davis ihre Erinnerungen an diesen "kompletten Musiker" (Charles Mingus) beisteuern. Auf Ornette Colemans "Free Jazz" und John Coltranes "Olé" war er nicht nur Ensemble-Mitglied gewesen, sondern vor allem Reibungsfläche für diese überragenden Saxophonisten. Unter Kollegen galt Dolphy als bescheidener und verlässlicher Mitspieler, der mit seiner Gage häufig auch mal Bandmitglieder durchfütterte.

 

Sein viel zu kurzes Leben endete 1964 in Wilmersdorf, wo er eigentlich am 27. Juni zur Eröffnung des Jazzclubs Tangente in der Bundesallee mit dem Trio von Karl Berger spielen sollte. Er erlitt während des Konzerts einen Zusammenbruch und wurde ins Achenbach-Krankenhaus eigeliefert. Doch niemand erahnte die Tragik, denn Dolphy rauchte nicht, und er trank auch niemals Alkohol, hieß es. Für die Heroin- und Kokainsucht im Jazz eine außergewöhnliche Notiz. Überraschend starb er zwei Tage später aufgrund von Komplikationen.

 

Zwei Monate nach seinem Tod wurde er in die "Hall of Fame" des Fachmagazins "DownBeat" aufgenommen. Dolphys Mutter schenkte John Coltrane Flöte und Bassklarinette ihres Sohnes - als Vermächtnis, wenn so man will.

 

 

 

ERIC DOLPHY

Musical Prophet: The Expanded 1963 New York Studio Sessions

Label: Resonance

VÖ: 25.01.2019

 

Text: oli/anBeat 

Illustration: Naiel Ibarrola 

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